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Highlights 2016: Die besten Alben

Jetzt, wo sämtliche Jahresrückblicke längst vergessen und fragwürdige Awards bereits medienwirksam an die üblichen Verdächtigen verteilt worden sind, lasse auch ich mir eine persönliche Abrechnung mit 2K16 nicht nehmen, muss dazu aber leider ein wenig ausholen…

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Review: Three Trapped Tigers – Silent Earthling [2016]

Three Trapped Tigers - Silent Earthling Cover| Erschienen bei Superball Music (2016) / Cover-Artwork von Paul Maurice |

Seien wir ehrlich: Als Tom Rogerson, Matt Calvert und Adam Betts sich für ihren Bandnamen entschieden, hätte ihnen der Irrtum eigentlich sofort klar gewesen sein müssen. Ganz anders als eine Raubkatze hinter Gitterstäben – passiv, träge, jeglicher Kraft und Gefahr beraubt – gelang dem Trio in der MySpace-Ära mit wilden, unberechenbaren, regelrecht entfesselten Performances der Durchbruch auf der Insel. Vielleicht spricht aus dieser an Ironie nicht sonderlich armen Namenswahl ja nur eine gewisse Vorliebe der Instrumentalmusiker, ahnungslose Hörer auf die falsche Fährte zu locken. Ihr ebenso verspielter wie technisch versierter Stilhybrid, der die für sich alleine betrachtet schon exzentrischen Sphären von Don Caballero und Squarepusher vereinen konnte, verdiente sich mit all seinem Gebimmel, Geklacker und Gefrickel den sprichwörtlichen Titel der klanggewordenen Wundertüte – und stellte Gewohnheitstiere damit vor handfeste Herausforderungen.

Für »Silent Earthling« haben sie fast fünf Jahre nach ihrem Debütalbum »Route One or Die« das ultradichte Soundgefüge, so scheint es mir zumindest, ein wenig aufgeräumt: Drum Kit, E-Gitarre, Lead-Synthies werden als Kernelemente der textfreien Songs nun klarer erkennbar. Insbesondere die noch eingängiger gewordenen Keyboardlinien stehen stärker denn je im Vordergrund. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass ihnen komplexe Arrangements und Spielwitz abhandengekommen wären – nach wie vor wird mit Rhythmus- und Tempowechseln die Aufmerksamkeit gefordert, tummeln sich eine Menge verschiedener Zutaten im Topf. Für TTT-Verhältnisse jedoch ist manch eine Passage im Vergleich zum sprühenden Erfindungsreichtum vergangener Releases beinah schon überschaubar geraten. Beinah, wie gesagt.

Von Reduktion kann und darf angesichts immer noch überdurchschnittlich üppiger Ausgestaltung keine Rede sein. Der mächtige Titeltrack gibt sich schon in seinem hallenden Intro wenig Mühe, die durchaus beachtlichen Größenverhältnisse herunterzuspielen, ehe Betts‘ spektakuläres Drumming »Silent Earthling« zum ersten, aber nicht einzigen Mal auf Höchstgeschwindigkeit katapultiert; diverse, mehr oder weniger betuliche Abschnitte kulminieren letztlich in einen schwindelerregenden Synthesizer-Strudel. Derlei Momente, wie sie der Opener bereithält, die ein merkliches Gewicht mit sich bringen, bilden seltene Ausnahmen auf der Platte. Rogerson und Co. verlegen sich hier überwiegend auf unbeschwerten Synth-Prog-Optimismus, stets im flinken Wechsel zwischen Gaspedal und Bremse. Für »Kraken« ist man sich sogar nicht zu schade, sich ein wenig jener ‚Cockiness‘ zu bemächtigen, die normalerweise eher dem puristischen Rockspektrum zu eigen ist, um diese einer nerdigen Neubehandlung zu unterziehen. Dessen ungeachtet ist das symbiotische Zusammenspiel von Elektronik und verzerrten Gitarren einfach hervorragend, auch wenn hier schon mal die eine oder andere anachronistische Keyboard-Einlage für irritiertes Aufhorchen sorgt.

Dass die Band sich an solchen oder ähnlichen Zuschreibungen vermutlich nicht besonders stören wird, liegt denn auch an ihrer spleenigen, aber unprätentiösen Herangehensweise, wie man sie gerade im Math-Rock der jüngeren Vergangenheit häufig antrifft. Keine Spur also von überkandideltem, pseudoelitärem ‚High-Art‘-Gehabe oder schwülstigem Ästhetizismus. Bei aller Virtuosität zeigen die Tiger keinerlei Berührungsängste mit dem vermeintlich ‚Trivialen‘, schöpfen im Gegenteil ausgiebig aus den künstlichen Welten der Massenkultur. Vor allem ältere Videogame-Soundtracks scheinen es ihnen angetan zu haben. »Rainbow Road« referiert sogar schon namentlich an die Rennstrecke aus den Mario Kart-Spielen und ‚emuliert‘ auch gewissermaßen deren klanglichen Ausdruck. Der merkliche 80er-Computermusik-Einschlag des Albums lässt sich ohne weiteres als retro-nostalgische Strategie klassifizieren. Und damit wären TTT, glaubt man Simon Reynolds, dem Zeitgeist paradoxerweise wieder sehr nah. Aber womöglich lohnt es sich auch, zumindest darüber nachzudenken, ob ihr Ansatz dem eklektizistischen Eifer eines Oneothrix Point Never vielleicht näher steht als angenommen, mag dieser Vergleich zunächst auch abwegig erscheinen. Als ein mit dem elektronischen Sektor assozierter Solo-Künstler (um nicht die irreführende Vokabel ‚Producer‘ weiterzutragen) nähert sich Daniel Lopatin der Angelegenheit nur eben von der anderen Seite – und verarbeitet natürlich ungleich abseitigere bzw. weniger erinnerungswürdige Facetten der Konsumgesellschaft als die eher heimelig verklärten Pixelwelten aus der Kindheit.

Dieser quietschbunte Nintendo– und Arcade-Automaten-Charme jedenfalls kann durchaus mit den zuletzt so überdrehten Veranstaltungen von Battles oder And So I Watch You From Afar in Konkurrenz treten. So unterhaltsam sich diese Komponente im Sound auch weitgehend niederschlagen mag, verlieren sich einige Songs leider einen Tick zu sehr im naiven Kitsch… ja, es droht der Überdruss an Regenbogenfarben! »Blimp« und das erste Drittel von »Engrams« sind etwas zu zuckrig geraten, beim genannten »Rainbow Road« verlässt man sich außerdem das eine Mal zu viel auf hymnisches Lalala als kompositorischen Rettungsanker. Der an und für sich wunderbar wüste Math-Ausbruch kurz vor Schluss wirkt im Kontext dann irgendwie zu halbherzig und bemüht, um das Steuer noch herumreißen zu können.

Abseits dieser Kritikpunkte ist das auf »Silent Earthling« Geleistete jedoch definitiv zu würdigen. Gerade der Einfluss jener Inspirationsquellen, die über Daddelbuden-Ästhetik hinausweisen, geht beim flüchtigen Hören fast unter. Das energetische »Strebek« glänzt mit Synthie-Eskapaden im Stile Aphex Twins sowie einem pastoralen Ambient-Outro. »Hemisphere« hingegen greift auf subtile Weise die unterkühlte Soundpalette von Electro-Funk und Old School Hip-Hop auf. Und »Rainbow Roads« Rhythmik erinnert sicher nicht zufällig an die des Drum & Bass.

Bleiben in der Aufzählung also noch zwei bislang gänzlich unerwähnte Stücke übrig, die aber unbedingt einer Bemerkung bedürfen: »Tekkers«, weil es in seiner markanten Einfachheit problemlos in das Happy End eines typischen High School-Films passen würde, wo es dann auf dem Abschlussball gespielt würde – und trotzdem sehr cool geraten ist! Ebenfalls nicht zu vergessen: »Elsewhere«, der tatsächliche (und nebenbei grandiose) Schlusspunkt der Platte. Die Gruppe bringt hier ihre ganze Stärke zur Geltung, die nämlich nicht einfach nur Könnerschaft und raffiniertes Engineering umfasst, sondern sich in Verbindung mit einer gesunden Portion Sentimentalität erst wirklich entfaltet. Unterm Strich ist »Silent Earthling« ein gutes Album mit ein paar signifikanten  Ausschlägen nach oben. Wenn es auch etwas hinter seinen Vorgängern, insbesondere der tollen EP-Sammlung, zurückfällt, gelingt Three Trapped Tigers kurzweiliger und dabei clever aufgebauter Synth-Rock, der zu keiner Sekunde streberhaft rüberkommt. Für dieses Mal haben sie den Streckenverlauf klar abgesteckt und manchmal gar ein bisschen zu konsequent verfolgt. Nun wird es spannend sein, zu erfahren, welche Richtung als nächstes eingeschlagen wird.

Tracklist:
01. Silent Earthling  
02. Strebek  
03. Blimp
04. Engrams
05. Tekkers  
06. Hemisphere  
07. Rainbow Road
08. Elsewhere  

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Video: Mark Pritchard – Sad Alron

Da hat es sich doch wirklich gelohnt, mal wieder bei Warp Records vorbeizuschauen – obwohl es zugegebenermaßen einige Sekunden bei mir gedauert hat, bis sich aus dem diffusen Grübeln à la „der Name kommt mir bekannt vor“ eine eindeutige Assoziation herausschälen konnte. Mark Pritchard ist mir bis dato lediglich als die eine Hälfte des inzwischen lange zurückliegenden Projekts Global Communication, auf welches der unsterbliche Downtempo-/Ambient-Techno-Meilenstein »76:14« von 1994 zurückgeht, zu Ohren gekommen. Eine denkbar einfache 10-Sekunden-Recherche ergibt, dass der gute Mann aber in den letzten zwei Dekaden äußerst aktiv gewesen ist und beständig Werke veröffentlicht hat. Spätestens an dieser Stelle wird die eigene Bildungslücke eklatant… Shame on me!

Nun ja, »Sad Alron«, um dies schon mal vorwegzunehmen, liefert mehr als überzeugende Argumente dafür, Pritchards Back-Katalog zumindest mal einer Stippvisite zu unterziehen. Ein faszinierendes Kleinod, diese Komposition! Jonathan Zawadas zugehörige Bilder sind ferner ein wahrer Glücksfall, da sie die evokative Magie des Ausgangswerks nicht entzaubert, sondern im Gegenteil noch dessen enigmatische Strahlkraft multipliziert! Keine drei Minuten lang ist die audiovisuelle Symbiose, doch durchaus epochal. Bild und Ton wirken dabei wirklich wie füreinander geschaffen. Langsame Kamerafahrten durch (teil)colorierte Canyons mit wechselfarbenem ‚Himmelszelt‘, knallbunte geometrische Objekte, irreale Gesteinsformationen und stakkatoartiges Morphen des Horizonts entführen in ein fantastisches Terrain, das niemals einem bedeutungsschwangeren Bombast anheim zu fallen droht.

Es liegt natürlich nicht fern, angesichts des Szenarios an »2001: Odyssee im Weltraum« zu denken, jedoch tummelt sich Zawadas Clip ebensowenig im überfüllten Pastiche-Planschbecken der Kubrick-Kopisten (das gibt 10 Gummipunkte auf’s Alliterationskonto!). »Sad Alron« bleibt ähnlich rätselhaft, erscheint aber zugleich auch unverbindlich, sodass es problemlos auf ästhetischer Ebene für sich selbst stehen kann, ohne den semantischen Ballast einer Entschlüsselung zu bedürfen. Auf musikalischer Ebene blitzt indes die »76:14«-Grandeur unverkennbar auf. Vormerken sollte man sich den 12. Mai, dann kommt nämlich Pritchards Album »Under The Sun« in den Handel.

 

 

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Highlights 2015: Die besten Alben

Und schon wieder eine Bestenliste! Überall tauchen sie auf, besonders am Jahresende, von den kleinsten Blogs bis zu den reichweitenstärksten Magazinen, alle bombardieren sie die Welt mit ihren inflationären Rankings. Da reiht man sich doch nur zu gerne ein, jedoch durfte die folgende, durchaus wohl überlegte Auswahl immerhin mehr als einen Monat lang heranreifen, um sich nun drastisch verspätet, aber …nennen wir es mal…  einigermaßen vollendet zu präsentieren, sofern dies überhaupt möglich ist.

Beim Verfassen dieser Zeilen stellt sich ein gewisser Déjà-vu-Effekt ein, deswegen sei auf die Einleitung des letzten Jahres verwiesen und an dieser Stelle nur kurz angemerkt, dass es bei der schieren Menge an veröffentlichter Musik einfach unmöglich ist, ihr in irgendeiner Weise gerecht zu werden. Denjenigen, die das hier lesen, wurde die Qual der Wahl damit hoffentlich ein wenig aus der Hand genommen. Vielleicht sagt die Selektion der Titel aber auch mehr über die Person aus, die sie vorgenommen hat, als über das Musikjahr 2015 – wer weiß das schon?

Fest steht hingegen – um ein bisschen Pathos in die Sache zu bringen –, dass Musik eines der wenigen Bollwerke gegen die Unannehmlichkeiten der Existenz darstellt und gleichzeitig, sofern sie mehr als bloße Ablenkung sein möchte, trotzdem in jene Realität eingebunden, also nicht vom Leben abgekoppelt ist. Das einleitende Geschwafel beschließe ich also in der Überzeugung, dass die unten gelisteten Alben dies gerade bewerkstelligen, indem sie der faden Mittelmäßigkeit und Austauschbarkeit entsagen und zum Kern der Dinge hervordringen.

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Review: Vessels – Dilate [2015]

Vessels - Dilate CD Cover| Erschienen bei BIAS / Bandcamp (2015) |

Ein bisschen überraschend ist es schon, diese ersten Takte von »Dilate« zu hören. Zumindest wenn man, wie ich, Vessels noch vage als furios und experimentierfreudig aufspielende Gitarrentruppe in Erinnerung hat. Anstatt im erprobten Post-/Math-Rock-Gewand durchzustarten, eröffnen sie ihr aktuelles Album, man höre und staune, mit waschechtem Techno – ganz so, als wollten sie gleich zu Beginn klarstellen: Wir meinen’s ernst mit dem Kurswechsel, das ist kein Allerweltsgeschrammel mit ein bisschen verwässertem Sommerhaus-Elektro! Rund dreißig Sekunden klopft also der Rhythmusautomat praktisch im Alleingang, dann beginnt sich langsam das akustische Gerüst weiter aufzubauen. Zu Klangschlieren verformte Stimmfragmente fliehen vorbei, mehr Reibung und Bass kommen ins Spiel, aus dem dezenten Pochen wird bald ein treibender Beat. Um diesen schmiegen sich wiederum immer mehr rauschhafte Flächen, bis sie ihn letztlich überlagern und kurz vor dem gefühlten Höhepunkt von einer Synthie-Melodiespur tatkräftig unterstützt werden, bevor der Opener ausfadet. »Vertical« präsentiert sich damit als sogartiger Teaser, der Lust auf mehr macht – bis hierhin nicht von schlechten Eltern, dieser neue Vessels-Sound!

Aufmerksamen Verfolgern der Band dürfte diese Rekalibrierung der Klangkoordinaten zugebenermaßen deutlich bruchloser und weniger unerwartet erscheinen, denn bereits auf ihrer »Elliptic EP« von 2013 ist ein großer Sprung in Richtung Elektronische Musik gemacht worden. Ebendieses »Elliptic«, quasi der Meilenstein auf dem bandinternen Weg von den Prog-Bühnen in die Tanztempel, ist folgerichtig auch auf »Dilate« vertreten und markiert ein weiteres Highlight. Über neun Minuten marschiert es leidenschaftlich auf dem schmalen Grad zwischen Euphorie und Elegie, vermag dabei den Hörer trotz Eingängigkeit durchaus zu fordern, ohne aber nur eine Spur verkopft zu wirken.

Bei all der neu gewonnenen Club-Affinität sind in den Dynamiken dennoch die Post-Rock-Wurzeln des Quintetts noch zu erahnen. Vielleicht schält sich in solch kaskadischen Aufbauten aber auch einfach nur die bereits vorhandene Anschlussfähigkeit zwischen diesen beiden musikalischen Sphären deutlicher heraus. So oder so, was die Herren aus Leeds hier treiben ist weniger ein vorsichtiges Liebäugeln mit den Mechanismen der Clubkultur als innige Umarmung! Blitzartige Richtungswechsel und rabiate Riffs haben fürs erste ausgedient. Die Dringlichkeit wurde vielmehr umgeformt in synthetisierten Druck und geradlinige Energie, welche ohne Aggression auskommt, aber den Sound trotzdem nicht zu glatt werden lässt. Neben dem allerorts (und mit Recht) zum Vergleich herangezogenen Jon Hopkins erinnern mich einige Stücke, insbesondere das tolle »Glass Lake«, an die eleganten Dancefloor-Leuchtfeuer von Kiasmos, während das leicht ‚angeglitchte‘ »Beautiful You Me«  eindeutige Stilverwandtschaft mit 65daysofstatics späteren Arbeiten aufweist.

Spärliche Rückgriffe auf das Rock-Instrumentarium, aber nicht unbedingt dessen Regeln, finden sich etwa noch in »Attica«, einer formidabel stampfenden Nummer mit eigenen Star Guitars im Gepäck, die frisch und vertraut gleichermaßen klingt und zweifellos das Potential zum Instant-Klassiker besitzt. Die verantwortlichen Musiker wussten wohl um die Macht ihrer Kreation und haben sie im wahrsten Sinne zum Zentrum gemacht, das heißt exakt in die Albummitte platziert. Wer hier nicht mitgerissen wird… ja, da fällt mir nicht mal mehr ein Satzende für ein. Aber auch danach haben die Jungs ihr Pulver noch nicht verschossen und wunderbar schwelgerischen Stoff in petto wie den Vocal-Track »On Monos« (mit Snow Fox) oder das bereits erwähnte »Beautiful You Me«.

Wie ein farbenfroh leuchtender Nachtzug rauscht das Album vorbei und treibt den Hörer immer wieder in ekstatische Höhen. Ob schimmernde Keys, knackige Drums, warme Atmosphären-Layer oder versiert eingearbeitete Samples – Vessels beherrschen ihre Technik bravourös. Wahrlich eine enorme Ausweitung des Horizonts, da hat der Titel nicht zu viel versprochen. Ihr persönlicher Dance Music-Beitrag klingt schon jetzt so lebendig, zupackend und ausgereift, dass man sich fragen könnte, was bitteschön soll da noch in Zukunft kommen? »Dilate« sichert sich für den Moment jedenfalls einen heißbegehrten Anwärterplatz auf den Titel des Überraschungsalbums des Jahres.

Tracklist:
01. Vertical  
02. Elliptic  
03. Echo In
04. As You Are
05. Attica  
06. On Monos  
07. Glass Lake  
08. On Your Own Ten Toes
09. Beautiful You Me

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Preview: Jean-Michel Jarre & Gesaffelstein – Conquistador

Seitdem das kulturelle Gebilde ‚Zukunft‘ gestorben zu sein scheint, ist womöglich auch der Moment für alte Synthie-Recken gekommen, sich wieder aus der Versenkung zu trauen. Horrorfilm-Ikone John Carpenter zum Beispiel veröffentlichte schon im Februar seine Sammlung hypothetisch-fiktiver Filmmusiken von ziemlich unterschiedlicher Qualität namens »Lost Themes«.

Und auch bei Urgestein Jean-Michel Jarre wird im Hintergrund derzeit offenbar fleißig an einem Comeback gewerkelt. Der Franzose gehört ja zu den großen Pionieren Elektronischer Musik, welche er mit seinen frühen Arbeiten einem breiten Publikum außerhalb akademischer Zirkel und Avantgarde-Grüppchen näher brachte. Besonders in den 70ern und frühen 80ern zählte Jarre mit Welterfolgen wie »Oxygène« oder »Équinoxe« zu den einflussreichsten Komponisten auf dem Gebiet synthetischer Klänge. Obwohl komplett instrumental und vom Format nicht gerade radiotauglich, sind die flächigen, mithilfe von Analog-Synthesizern erzeugten Stücke eingängig und melodisch – dem Pop und der Klassik damit näher als der ansonsten so praktizierten elektronischen Geräuschforschung.

Der neue Track hört auf den Namen »Conquistador« und ist eine Zusammenarbeit mit Noir-Techno-Dandy Gesaffelstein. Eine durchaus naheliegende Kombination, zeigte sich doch vor zwei Jahren bei dessen Debüt »Aleph« schon, wie sehr der Sound durch den ungleich älteren Landsmann beeinflusst worden sein muss. Bei »Conquistador« treffen sich nun die archetypischen Melodien Jarres mit der kristallinen Kälte Gesaffelsteins. Letzterer spendierte dem Klanggerüst auch mutmaßlich einen deutlich knackigeren Beat. Ein interessante Kollaboration!

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Review: Aphex Twin – Syro [2014]

Aphex Twin - Syro| Erschienen bei Warp Records (2014) |

Wenn Richard D. James mittels seiner Musik eines am liebsten macht, dann ist es ganz sicher die Angewohnheit mit der Erwartungshaltung seiner Hörer zu spielen. Oder eine bestimmte Erwartungshaltung ähnlich wie Kollege Squarepusher erst gar nicht aufkommen zu lassen, indem man den Überraschungseffekt zum Aushängeschild macht – es kommt eben auf die jeweilige Sichtweise an. James ist ein stilistisches Chamäleon, das in nahezu genialischer Manier seinen eigenen Sound Metamorphosen noch und nöcher vollziehen lässt, geradezu spielerisch unterschiedlichen Strömungen Einlass in seinen Klangkosmos gewährt und gleichzeitig doch unverkennbar die eigenwillige Handschrift erkennen lässt. Unter seinen zahlreichen Pseudonymen widmete sich das unter Wunderkind-Verdacht stehende Schlitzohr schon in Teenagerzeiten nicht nur seinen berühmt gewordenen, traumwandlerisch ruhigen Elektroklängen („Selected Ambient Works 85-92“), sondern machte sich ebenfalls Formen des Industrial-Techno, Acid, Rave und Oldschool Breaks („Classics“) zu eigen; dazu kommen eine ganze Reihe wegweisender IDM-Veröffentlichungen („On“, „Hangable Auto Bulb“, „I Care Because You Do“ uvm.) mit universalem Meilenstein-Status. In den späteren 90ern prägte er maßgeblich die Entwicklung des Drill & Bass-Subgenres („Richard D. James Album“) und landete mit „Come To Daddy“ und „Windowlicker“ sogar zwei subversive Hits, bevor „Drukqs“ im Jahr 2001 als vorübergehendes Ende der Aphex-Ära die Musikgeschichte von vielen Jahrhunderten in einer herausfordernden Doppel-CD zu subsumieren schien. Doch auch danach ist der König der Soundtüftler nicht untätig, bringt unter dem AFX-Alias die „Analord-Serie heraus oder veröffentlicht inkognito als The Tuss exzellenten Braindance.

Die Erwartungen, um darauf noch einmal zurückzukommen, sie waren wohl bei noch keinem Aphex Twin-Album so hoch wie bei „Syro“. Immerhin hat sich James 13 Jahre Zeit für die Fertigstellung gelassen und die Öffentlichkeit weitgehend gescheut, um dann mit aufsehenerregenden PR-Tricks von Warp Records‘ Werbe-Abteilung die Aufmerksamkeit plötzlich wieder auf sich zu lenken. In der Zwischenzeit kokettierte James zu ausgewählten Anlässen damit, genug Material für mehrere Alben angehäuft zu haben, aber schlichtweg nicht in Release-Laune gewesen zu sein. So oder so, die Fallhöhe dürfte nicht geringer geworden sein. Doch all dieses Drumherum, die verblüffenden Marketingaktionen und doppelbödigen Interviews, sind vergessen und unwichtig, sobald der erste Ton von „Syro“ seinen Weg ins Ohr bahnt.

Dabei klingt der Nachfolger des labyrinthischen „Drukqs“ trotz der langen Veröffentlichungspause von Anfang an erstaunlich vertraut. Ein Eindruck, der fortan nicht mehr weichen wird. Diese verknoteten Rhythmen, seltsam entrückten Melodien und schrägen Basslinien – das kann nur ein Aphex Twin-Album sein. Moment mal! …war die unerwartete Komponente, diese Extradosis Wahnsinn, nicht eines der Markenzeichen? Stimmt, doch diesmal hat der gebürtige Ire offenbar keinen Generalangriff auf die allgemeinen Hörgewohnheiten vorgesehen. Stattdessen liefert er eine auffallend zurückhaltende, jedoch blitzsaubere Demonstration seines musikalischen Könnens ab, die weder den Hörer verstört noch großartige Stil-Modifikationen beinhaltet. Hyperaktive Ausbrüche sind eher die Seltenheit auf „Syro“, die Stücke in der Regel weit von Überfrachtung entfernt. Stattdessen scheint James die reduktionistische Schönheit der „Selected Ambient Works“ wieder für sich entdeckt zu haben, die er mit dem melodiös-treibenden AFX-Acid („Chosen Lords“) kombiniert. Das Ergebnis ist ein ausgeglichenes, kohärentes Werk: Ohne Frage verschroben, eigensinnig und weltvergessen, dabei aber so zugänglich wie lange nicht mehr.

Verträumte Synthie-Landschaften laden zum ausgiebigen Erkunden ein, natürlich nicht gänzlich ohne vertrackte Wegführung, Computer-Bleeps und das eine oder andere verrückte Detail am Wegesrand. Die Kompositionen scheinen vordergründig betrachtet nicht unbedingt fokussiert, doch erweist sich das auch gerade als eine Stärke von „Syro“. Aphex Twin arbeitet wie gewohnt nicht mit gewöhnlichen Spannungsbögen. Statt sich in dramaturgische Korsetts zu zwängen, lässt er den Sound fließen und sich entfalten, Altes verschwinden und Neues hinzukommen; ganz offen und grenzenlos. Selbst wenn die Veränderungen manchmal nur unscheinbar und verhalten sind – immer noch bringt er in wenigen Minuten mehr Ideen unter als manche anderen Künstler in einem ganzen Album.

Viele Tracks sind genau genommen nicht neu, sondern vor mehr als fünf Jahren entstanden, wie z.B. „XMAS_EVET10 [120][thanaton3 mix]“, dessen Livemitschnitt man sich als „Unreleased Metz Track“ schon seit geraumer Zeit im Netz anhören konnte. Und es ist der Musik durchaus anzuhören, dass sie größtenteils aus der Mitte der 2000er entstammt, was jedoch nicht negativ ins Gewicht fällt, denn die ausgefeilten Arrangements haben nach wie vor nichts von ihrer Faszination verloren. „4 bit 9d api+e+6 [126.26]“ hätte mit etwas mehr Lo-Fi-Appeal gefühlt auch vor fünfzehn bis zwanzig Jahren erscheinen können, nichtsdestotrotz nimmt man diese wohltuenden Höreindrücke liebend gerne mit. Wo sonst bekommt man schließlich derart leichtfüßige, in einzigartiger Erhabenheit strahlende und dennoch intellektuell bestechende Klangkunst geboten? Eben. „180db_ [130]“, das mit einfachen 4/4-Technobeats startet, wirkt eher wie ein ironischer Abgesang auf die Tanzmusik der 90er, wahrgenommen im Drogenrausch. Irgendwie scheint das Stück immer wieder beinah in sich zu kollabieren, aber degenerierte Rave-Fanfaren und Breakbeats bäumen sich mit letzter Energie dagegen auf. Es folgen ultrakomplexe Geniestreiche wie „CIRCLONT6A [141.98][syrobonkus mix]“, die man besser gar nicht mehr weiter kommentiert… Mit “PAPAT4 [155][pineal mix]” und “s950tx16wasr10 [163.97][earth portal mix]” haut der Chef-Exzentriker in der zweiten Albumhälfte doch tatsächlich noch mal mit handfesten Jungle-Rhythmen auf die Kacke, um die Platte anschließend mit den wundervollen Klavierakkorden von „aisatsana [102]“ leise, melancholisch und ergreifend simpel ausklingen zu lassen.

Manch einer wird das extreme Element oder neue Impulse vermissen. Wie vielerorts richtigerweise angemerkt wird, unterscheidet sich „Syro“ bis auf kleinere Akzentverschiebungen im Grunde wenig von dem, was James in den letzten zwei Dekaden fertiggebracht hat. Doch bevor man Britanniens vielleicht größten zeitgenössischen Musiker Rückwärtsgewandtheit vorwirft, sollte man sich klarmachen, dass die Klangwelt von Aphex Twin nie wirklich in der Gegenwart oder Zukunft verhaftet war, sondern sich trotz vieler Einflüsse seit jeher schon losgelöst von Raum und Zeit konstituierte. Auch beim Zusammenspiel der Melodien, Rhythmen und Geräusche auf „Syro“ hat man immer noch das Gefühl, mehr den Klängen von fernen Alienkolonien zu lauschen als denen einer menschlichen Vergangenheit. „Syro“ mag nicht so monumental ausufern wie „Drukqs“ oder so kompakt und verspielt wie das „Richard D. James Album“ daherkommen. Es ist einfach ein ziemlich gutes Album.

Tracklist:
01. minipops 67 [120.2] 
02. XMAS_EVET10 [120][thanaton3 mix] 
03. produk 29 [101]
04. 4 bit 9d api+e+6 [126.26]
05. 180db_ [130]
06. CIRCLONT6A [141.98][syrobonkus mix]
07. fz pseudotimestretch+e+3 [138.85]
08. CIRCLONT14 [152.97][shrymoming mix]
09. syro u473t8+e [141.98][piezoluminescence mix]
10. PAPAT4 [155][pineal mix]
11. s950tx16wasr10 [163.97][earth portal mix]
12. aisatsana [102]

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Brandneu: Clark – Unfurla

Überraschend clubtauglich präsentiert sich Warp Records‘ Platzhirsch Clark mit seinem neuen Stück „Unfurla, das der Engländer via Soundcloud der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Eingängige, gerade Beats bilden das treibende Skelett, bei der Texturierung dagegen wird erwartungsgemäß ein wenig mehr experimentiert. Tatsächlich gerät der Rhythmus hier eher unscheinbar, während die reichhaltige ‚Peripherie‘ geradezu meisterhaft detailversessen ausgefallen ist und der Fünfeinhalb-Minuten-Nummer ein beachtliches Farbenreichtum verpasst.
Unfurla“ wird auf Clarks selbstbetiteltem neuen Album zu finden sein, dass am 14. November digital und als physischer Tonträger erscheint.

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Video: Octave Minds – Symmetry Slice

Chilly Gonzales und Boys Noize machen gemeinsame Sache. Unter dem Projekttitel Octave Minds wird die Kollaboration der beiden Weggefährten bereits am 13. September als gleichnamiges Album erscheinen.

Mit dem vorab veröffentlichten Video zu „Symmetry Slice“ beweisen der Piano-Tausendsassa und Berlins Electro-Allrounder abermals, dass ihr Horizont weit gesteckt ist. Ein wundervoller Leisetreter durch pastellfarbenes Ambiente und erhabene Soundlandschaften des träumenden Bewusstseins. Gonzales‘ evokative Klaviermelodien und das feinsinnig pulsierende Sound-Skelett des deutschen Vorzeige-DJs bilden eine unbedingt hörenswerte Fusion mit Filmmusik-Charakter. Eine kleine Meisterleistung aus nachdrücklichem Understatement und subtiler Akzentuierung. Bei der Synthie-Eruption nach circa zweieinhalb Minuten jagt es einem die Gänsehaut über den ganzen Körper.

Traumwandlerisch im wahrsten Wortsinn präsentiert sich auch der sympathische Clip, der die Fantasiereisen einer schlafenden jungen Frau visualisiert. Das hat durchaus einen gewissen Charme und wirkt überraschend zurückhaltend im Vergleich zur normalerweise so temperantvollen Musik der beiden Künstler.

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Happy Birthday, Jilted Generation!

Vor ziemlich genau 20 Jahren erschien The Prodigys Kultalbum „Music for the Jilted Generation„. Grund genug, um eine Rückschau zu wagen und diesen Klassiker noch ein mal ausdrücklich zu würdigen…

Als Liam Howletts Geniestreich anno 1994, genauer gesagt am 4. Juli des besagten Jahres, veröffentlicht wurde, war ich vier Jahre alt und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich etwas von dieser Musik, die ihrerzeit einer kleinen Revolution gleichkam, bewusst mitbekommen habe (zwei Jahre später sollte sich das mit „Firestarter“ abrupt ändern). Sicher irgendwie bedauerlich, aber eben dem jungen Alter geschuldet. Viel später erst sollte ich diesen Meilenstein für mich entdecken und richtig zu würdigen wissen. Doch hier soll es eben nicht um meine persönliche, offen gestanden wenig interessante, Story gehen.

“I was feeling free – free of the rave BPMs, and feeling slightly rebellious against it. Rave had turned into something that we didn’t like. I remember standing on stage in Scotland, at a rave, and it just felt silly. I was like: ‘What the f*ck am I doing here? I’m not into this. It’s now so far from what it was.’ That made me want to do something different.”
(Liam Howlett)

Aus musikhistorischer Perspektive liegt es rückblickend nah, „Music for the Jilted Generation“ als Bindeglied in der musikalischen Entwicklung von The Prodigy zu verorten, das den Wechsel vom wenig massentauglichen Hardcore Rave („Experience„, 1992) zum stilistisch unverwechselbaren Rock’n’Roll-Psycho-Breakbeat („The Fat of the Land„, 1996) markiert, der ungeachtet seiner innovativen Form zum internationalen Chartbreaker avancierte. Ein gewisser Übergangscharakter beim Zweitwerk ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dennoch verkennt dieses Labeling die eigentliche Wirkungsmacht und Einflusskraft des 94’er Longplayers. So großartig sein Vorgänger und der Nachfolger auch gewesen sind, der wirkliche Coup ist Howlett und Co. mit „Music for the Jilted Generation“ gelungen! Ein nie dagewesener Hybrid aus Rock und Rave, der alles gleichzeitig und doch nichts von beidem war; einer, der vor lauter Ideen überzulaufen schien (ebenfalls nicht zu vergessen sind die Jazz-, Funk- und Hip Hop-Einflüsse) und bezeichnend war für die wahrscheinlich produktivste und kreativste Phase einer in vielerlei Hinsicht unkonventionellen Band.

Das Cover-Artwork allein ist ein kleines Meisterwerk. Kalt, synthetisch, aber alles andere als hochglanzpoliert sieht das Motiv aus. Es zeigt die Konturen eines Gesichtes, die aus einem metallisch anmutenden Untergrund hervorzutreten scheinen. Der Mund ist weit aufgerissen. Maskenhaft, fremdartig und ein bisschen unheimlich wirkt diese Silhouette. Manche fühlen sich an Han Solos Karbonit-Hülle aus „Star Wars“ erinnert, andere wiederum an den Flüssigmetall-Androiden T-1000 aus „Terminator 2„. Oder handelt es sich möglicherweise doch bloß um ein Industrial-Update von Munchs „Der Schrei“? The Prodigy - Music for the Jilted Generation ArtworkSo ganz eindeutig mag man das Gezeigte nicht einordnen. Es bleibt bei vage angedeuteten Vielleicht-Referenzen. Das Motiv erscheint nicht nur deshalb fremd und vertraut gleichzeitig – für Freud schlichtweg die Definition des Unheimlichen. Was verbirgt sich hinter der silbrigen Ausformung?  Ist sie ein Insignium für etwas Lebendiges, das sich dort hinter befindet? Oder doch nur ein simpler Abdruck, eine eiserne Totenmaske? Ist es artifizieller Herkunft, vom Menschen gemacht? Diese unbeantwortbaren Fragen und suggestiven Qualitäten geben der Abbildung etwas Rätselhaftes. Dass sie nicht zu viel verrät, ist einer der Gründe, weshalb sie so reizvoll für den Betrachter ist. In jedem Falle transportiert das Jilted-Generation-Motiv jene sinister anmutenden Fortschrittsgedanken der 90er Jahre, die im multimedialen Vernetzungswahn und einer regelrechten Technophilie kulminierten. Wenngleich deutlich subtiler im Ausdruck, steht es damit auch dem nicht weniger gelungenem Artwork von Apollo 440s „Millenium Fever“ nahe, das die Ästhetik des Cyberpunks noch unmittelbarer repräsentiert und in Kombination mit seinem Albumtitel sogar eine unmissverständliche Ausrichtung vornimmt.

Mit dem Titel nahm man im Fall von The Prodigy hingegen scheinbar direkt Bezug auf eine Subkultur desillusionierter Jugendlicher, denen man die letzten Rückzugsgebiete wie z.B. Warehouse-Parties per Gesetz weggenommen hatte („Fuck’em, and their law!„). Howlett bestreitet diesen Zusammenhang und dennoch klingt es auf dem Album fast so, als wollten The Prodigy mit einem sich über stilistische Grenzen hinwegsetzenden Sound die verschiedenen Szenen auseinandernehmen und zu etwas Neuem vereinen. Experimentierfreudig ging man vor und dementsprechend abwechslungsreich ist auch das Programm, kamen hier mit Drum Machines, gesampelten Percussions, E-Gitarrenriffs, Synthieflächen, gepitchten Vocals, Flöten-Arrangements, Filmschnippseln, Acid-Geblubber usw. eine Fülle an unterschiedlichen Zutaten zum Einsatz, ohne dass das Ergebnis beliebig wirkte oder an Konsistenz vermissen ließ. Jeder der 12 Tracks klingt einzigartig und würde eine seperate Besprechung verdienen. Zusammengehalten als Gesamtwerk wurde das alles hauptsächlich durch die angenehm dreckigen Breakbeats und erhabenen Synthesizer-Klänge, die finster und spacig tönen.

Auch nach zwei Dekaden und unzähligen Durchläufen ist es immer noch erstaunlich, wie dicht und mitreißend Howlett sein Opus Magnum gewebt hat: Ein Highlight folgt auf das nächste, „MFTJG(so die inofizielle Kurzform) ist episch und kompakt, atmet neonfarbige 90er-Jahre Luft und ist seiner Zeit dennoch um Lichtjahre voraus gewesen. Untypische, wüst daherkommende Hits wie das unnachahmlich galoppierende Brett „Voodoo People“ oder Kopfnicker „Poison“ mit seinem Jam-Charakter, sind genauso anzutreffen wie großzügige UK Hardcore-Rückstände, denen man in oldschooligen Breakbeat-Attacken der Marke „Full Throttle“ oder „One Love (Edit)“ begegnet. Den endgültigen Siegeszug auf den musikalischen Olymp tritt die Truppe aus Essex jedoch erst in der Verlängerung an: Das finale Dreigestirn mit dem Untertitel „The Narcotic Suite“ hievt das bereits zu diesem Zeitpunkt hervorragende Album in schwindelerregende Sphären. „3 Kilos“ läutet die Odyssee tiefenentspannt und verspielt ein, langsam und majestätisch beginnt man schließlich abzuheben und alles um einen herum verschwindet in der Ferne. In „Skylined“ hat man die Umlaufbahn längst verlassen. Schwerelos lauscht man dem experimentellen Weltraum-Techno, aufregend und wunderschön ist das, aber auch ungewiss und trügerisch still. Allmählich wandelt sich die erhebende Spannung in eine zunehmend hypnotische Beklemmung. Was vorher noch frei und grenzenlos schien, zieht sich immer enger um den Hörer zusammen. Bei „Claustrophobic Sting“ ist man bis in die dunkelsten Randbereiche des Universums vorgedrungen und blickt dem puren Nichts ins Auge. „My mind is glowing„, ein fiebriger Acid-Rave-Alptraum zum Abschluss. Man klopft an die Türen des Unfassbaren. 78 Minuten und sieben Sekunden sind gespielt. Und dann endet es.

Während die Welt in trashigem Euro Dance und dumpfer Grunge-Ödnis zu versinken drohte, waren vier englische Querdenker längst zwei Schritte weiter, wenn auch die Errungenschaften dieses Weges eine unvermeidliche Eigendynamik nach sich zogen, die von der Band selber erst ein mal verkraftet werden musste. Sie hatten alles Vorherige durcheinandergewirbelt und wären bei all der Energie fast selber ins Schleudern gekommen. The Prodigy expandierten, verkauften Millionen Platten, füllten Stadien und blieben gleichzeitig doch irgendwie Underground im Geiste. Das soll ihnen mal einer nachmachen…

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