| Erschienen bei Ad Noiseam (2014) |
Nicht eins, nicht zwei, sondern genau drei sind aller guten Dinge. Auf diese besondere Bedeutung weisen diverse Kulturen, Mythologien, Religionen, Märchen u.a. seit Jahrhunderten hin. Schon Aristoteles schwor auf die spezielle Vollkommenheit, im Christentum spricht man etwa von der ‚heiligen Dreifaltigkeit‘ und selbst beim Fußball erhält die siegreiche Mannschaft drei Punkte. Schenkt man all der Zahlensymbolik und Folklore Glauben, hat Oyaarss mit »Zemdega« nun diese ‚magische‘ Balance in seinem Werk hergestellt. Doch was war bis hierher eigentlich geschehen?
Praktisch aus dem Nichts legte der Musiker aus Lettland 2012 auf Ad Noiseam zwei absolut unglaubliche Alben vor, die so unvermittelt und gewaltig einschlugen, wie ein verdeckter Fausthieb in die Magengrube. Dabei ist Arvīds Laivinieks außerhalb seiner Heimat ein nahezu unbeschriebenes Blatt gewesen, dessen frühe Soundcloud-/MySpace-Uploads ohne eigenes Mitwissen im Netz inoffiziell herumgereicht wurden. Mit »Smaida Greizi Nākamība« und »Bads« verblüffte er dann innerhalb weniger Monate mit seinem über alle Maßen kompromisslosen Sound, der so anders, so kreativ, so heftig hirnpenetrierend, genresprengend und unverwechselbar ausgefallen ist, dass man gar nicht anders konnte, als mit heruntergeklappter Kinnlade zurückzubleiben. Ein dystopisches, höchst immersives Gewitter aus den finstersten Ecken des Baltikums brach über den Hörer hinein: dunkel, tonnenschwer und geheimnisvoll; hässlich, deprimierend und schön im gleichen Maße. Gewöhnliche Kategorien schaffen hier keine Abhilfe mehr, nein, nicht weniger als das Tor zu einer unentdeckten musikalischen (Unter)Welt wurde aufgestoßen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Erwartungshaltung des Rezensenten in Hinblick auf das aktuelle Release beinah zwangsläufig ins quasi Unermessliche angewachsen ist, zu prägend sind die bisherigen Eindrücke noch im Kopf verankert. Damit hat »Zemdega« unweigerlich einen schweren Stand: Orientiert es sich zu sehr an seinen Vorgängern, ist es nicht mehr originell, entfernt es sich zu stark von ihnen, droht ebenso die Gefahr der Enttäuschung. Die hohe Kunst besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen diesen Polen zu finden. Tatsächlich macht seine 2014er-Veröffentlichung nicht einfach nur das Dreigespann vollständig, sondern schlägt gleichzeitig ein neues Kapitel auf. Paradoxerweise kann sich »Zemdega« dem Sequel-Dilemma trotzdem oder sogar genau deswegen nicht gänzlich entziehen – auch wenn es sicher übertrieben ist, hier von einem ‚Dämpfer‘ zu sprechen. Auf der einen Seite erscheint sein musikalischer Ansatz dank der eigenen Verdienste auf diesem Gebiet logischerweise nicht mehr ganz so überraschend, radikal und innovativ wie noch vor zwei Jahren, das kann man dem aufstrebenden Künstler aber nicht wirklich zum Vorwurf machen. Andererseits folgt seine unkonventionelle Musik diesmal jedoch anderen Dynamiken und Gesetzen, an die man sich erst gewöhnen muss.
Um zu verstehen, was sich verändert hat, lohnt sich zunächst einmal ein Blick auf die Gemeinsamkeiten: Der Output des Wahl-Berliners erweist sich noch immer als hochgradig verzerrtes, mächtige Bilder erzeugendes und kaum fassbares Monstrum, welches man vergeblich als Schnittmenge von Industrial, Dark Ambient, IDM, Dubstep, Rhythmic Noise, Post-Rock und kontemporärer Klassik subsumieren könnte, würde es in Wahrheit nicht jenseits sämtlicher erprobter Strukturen umher wüten. Oyaarss ist wie ein Hexenmeister, der einen mit den Klängen seiner ‚Zaubermaschinen‘ in ein bittersüßes Universum entführt, das Vergangenheit und Zukunft eklektizistisch zusammenbringt.
Was allerdings schnell auffällt, ist, dass der Sound insgesamt an cineastischer Schärfe gewonnen hat. Phasenweise erklingen die Beats zum Beispiel nicht mehr so rumpelnd, glitchy und maximal dreckig wie bei den Vorgängern. Wirkten deren fantasievoll-trostlose Klangskulpturen noch den Trümmern einer kaputten Zivilisation entstiegen, angesiedelt irgendwo zwischen post-industrialisierter Endzeit und Grimms Märchen, hat »Zemdega« ein wenig dieser morbiden Eleganz eingebüßt. Im direkten Vergleich kann man der Platte einen in dieser Form noch nicht dagehabten, etwas kühleren und futuristischeren – in gewissen Momenten fast alienartigen – Charakter bescheinigen. Robotische Einschübe wie »Trīsvienība« waren nicht unbedingt zu erwarten und erweitern das Spektrum dezent in Richtung Science Fiction. Das Sound-Design ist ohne Frage ausgezeichnet – im wahrsten Sinne umwerfend. Die Percussions, das merkt man schon bei den ersten beiden Tracks, sind ‚filmischer‘ als zuvor. Und auch sonst kommen die Stücke effektverliebt daher, feuern mit Kinosaal-Wucht ins Ohr und nähern sich der Ästhetik von ‚Trailermusik‘ auf die bestmögliche Art und Weise (nicht ganz zufällig lief »Zemdega« als audiovisuelle Installation in einem Filmtheater in Riga).
Dementsprechend ist das Drittwerk aber eben auch skizzenhafter bzw. fragmentarischer geraten, eher auf schnelle und sprunghafte Metamorphosen ausgelegt. Ideen werden verhältnismäßig oft unmittelbar ausartikuliert, bevor sie schon wieder von der nächsten abgelöst werden. Es ist häufig mehr ein überlappendes ‚Hintereinander‘, statt gleichzeitiger Synthese. Durch diesen Fokus auf den Moment allein, auf das Kurzfristige und Affektive, geht der bis dato eigenwillige Fluss und ein Teil der brachialen Sogkraft verloren. Jetzt wäre es natürlich absurd, die Brüche und Wechselspielchen des Albums zu kritisieren, denn Oyaarss‘ Kunst ist ein einziger Traditionsbruch, ein in sich zerstörtes Gebilde. Doch vermisst wird sie in manchen Momenten schon, diese flächige zermalmende Power, die sich gern über Minuten ausbreitet, wie ein zäher Lavastrom. Es ist die Musik als das undurchdringliche Ganze, das einen entscheidenden Teil der Faszination dieses Projekts bislang ausgemacht hat. »Bads« und »Smaida Greizi Nākamība« sind bei aller Abstraktheit in sich ungemein stimmige und geschlossene Meisterwerke. Diese Qualitäten vermag »Zemdega« in der zweiten Hälfte wieder stärker zu forcieren: »Slikta dardedze« mit progressivem Aufbau, quasi das Herzstück in der Mitte des Albums, holpert unnachahmlich um seine kreisenden Melodien und Spoken Word-Mantras. Unbestrittenes Highlight stellt aber das direkt darauf folgende »Brustwart« dar, welches man gewissermaßen als das ‚neue‘ »Malduguns« bezeichnen kann – und nebenbei eindrucksvoll zeigt, dass Oyaarss auch im Uptempo-Modus bestens funktioniert. Abermals faszinierend-zwielichtige Melodien drängen sich um dicht verästelte Rhythmen; im Mittelteil wird das Tempo dann zurückgefahren; quietschige Modem-Sounds bleiben ein kurzes Zwischenspiel, das zu metallisch tönenden Drumpatterns überleitet. Was Laivinieks im Studio zusammengebraut hat, zerberstet hier in schonungsloser Brutalität; dazu gibt der Sänger der belgischen Band Amenra, Colin Van Eeckhout, seine wie von Sinnen geschrienen Vocals zum Besten – heftig! Das gelungene Zusammenspiel aus musikalischer Schönheit und forschem Basteln an den Klängen der Zukunft in »Trombocīts« – aggressive Snaredrums und insektoid anmutende Summ- und Klicklaute auf großartige Weise vereinend – sorgt für einen triumphalen Abschluss.
Nicht alles gelingt auf der Platte, so flächendeckend überwältigend wie die Vorgänger kommt sie nicht daher. Trotz alledem weiß sie mit ihrer erschlagenden physischen Kraft, der gekonnten Verquickung unterschiedlichster musikalischer Ausdrucksmittel und Referenzen zu überzeugen, wagt Veränderungen – und ist darüber hinaus garantiert nichts für Lärmempfindliche! Oder um es mit einer Metapher aus dem Sport zusammenzufassen: Oyaarss steht trotz Systemumstellung nicht mehr uneinholbar vor der Konkurrenz, dennoch reichen diesmal drei brillante Partien und eine Handvoll Arbeitssiege, um sich mit »Zemdega« das Triple zu sichern.
Tracklist:
01. Četrvienība
02. Izniekotā Laika Hronikas
03. Divdabība
04. Trīsvienība
05. Rītrīts
06. Slikta Dardedze ✓
07. Brustwart ✓
08. Purva Līdējs
09. Zemsega
10. Trombocīts ✓